Pivo – Teil 1

Plötzlich zu Dritt

Eigentlich hätten wir es aus den vergangenen 6,5 Monaten wissen sollen. Nämlich dass es sich auf einer Reise wie der unseren nicht lohnt groß Pläne zu machen, denn am Ende kommt es ohnehin immer anders als man denkt. Trotzdem fassten wir nach nicht einmal einer Woche in Serbien den Plan, dass wir den Rest durch dieses Land nur so schnell wie möglich durchqueren würden, um nach Rumänien zu gelangen. Wir waren genervt. Zum einen, da uns Serbien ein wenig unsere Reiseroute vorgab. Man kann nicht aus dem Kosovo dorthin einreisen ohne vorher bereits in Serbien gewesen zu sein und damit einen serbischen Stempel im Reisepass zu haben, da Serbien die Unabhängigkeit des Kosovo nicht anerkennt und es zumindest laut Serbien weiterhin zum serbischen Land zählt. Zum anderen, da wir uns an diesem Tag bereits zwei Mal in den Straßengraben hatten retten müssen, da zwei LKW schlichtweg egal war, dass sie uns andernfalls überrollt hätten. Der restliche Verkehr war nicht viel besser, was auch die unzähligen Gedenksteine belegten, von denen mindestens einer pro Kilometer die Fahrbahn säumte. Also stand der Plan fest: In die Pedale treten und drei Tage später wären wir wahrscheinlich in Rumänien.

Zumindest dachten wir das so. Und zunächst lief es auch ganz gut. Wir hatten einen angenehm ereignislosen Tag mit wenig befahrenen Nebenstraßen hinter uns, die Temperaturen waren wieder ins sommerliche geklettert und wir hatten am späten Nachmittag noch einen letzten Anstieg vor uns. Dann sollte es quasi nur noch bergab zur Donau rollen. Wir krochen also den letzten Berg in der prallen Sonne hinauf, als Henning plötzlich am Fahrbahnrand hielt, sich zu mir umdrehte und mit entsetztem Gesichtsausdruck sagte, „Oh Gott, schau mal!“ Als ich die paar Meter aufgeschlossen hatte, wusste ich sofort, was er meinte, denn aus einem Berg von Müll kam ein unglaublich winziges, getigertes Kätzchen schreiend auf uns zugetappst. Uns war sofort klar, dass es Hilfe benötigte, so wie es aussah und am schreien war. Abgesehen davon standen wir mitten an einer Straße und der kleine Kerl machte auch nicht die geringsten Anstalten wieder zu verschwinden. Kurzerhand nahm ich ihn hoch, setzte ihn in meine Fronttasche und wir schoben die Räder ein Stück weiter auf eine abgemähte Wiese, weg von der Straße.

Dort setzten wir ihn auf den Boden und ab diesem Zeitpunkt wich er nicht mehr von unserer Seite. Henning hielt ihm seine Trinkflasche hin und er trank gierig das Wasser, was daraus hervorkam. Er schien vollkommen dehydriert. Natürlich waren wir auf so etwas überhaupt nicht vorbereitet und hatten nichts Adäquates, was wir ihm als Futter hätten anbieten können. Also zog ich eine Packung Milchpulver hervor, die ich durch Zufall zwei Tage zuvor gekauft hatte und rührten ihm davon etwas an. Wir wussten zwar, dass Katzen Milch aufgrund des Milchzuckers nicht bekommen sollten, aber wir hatten einfach nichts anderes. Und was hätten wir ihm sonst geben sollen? Das Kätzchen war so winzig, dass es vermutlich eigentlich noch Muttermilch hätte bekommen müssen. Der Kleine freute sich jedenfalls über die Milch und fing gierig an zu schlabbern.

Wir saßen derweil in der Wiese, schauten dem Kleinen zu und hatten keine Ahnung, was wir nun tun sollten. Fest stand für uns beide nur, dass wir ihn nicht einfach hier zurücklassen konnten. Es war mehr als offensichtlich, dass er das nicht überleben würde. Abgesehen davon, dass er viel zu jung war, um alleine zurechtzukommen, war sein eines Auge verklebt und entzündet, sein After stand merkwürdig hervor und vermutlich hatte er auch Flöhe, Milben oder sonst welches Getier. Keine guten Voraussetzungen. Wir waren absolut überfordert. Daher beschloss ich Social Media zu nutzen und dort um Hilfe zu bitten. Außerdem schrieb ich Dean an, dem 2019 in Bosnien ein Kätzchen zulief, als er mit dem Fahrrad auf seiner Weltreise dort unterwegs war und schließlich zusammen mit Nala (so hat er seine Katze genannt) auf seinem Fahrrad um die Welt fuhr. Inzwischen ist er berühmt und reist immer noch mit Nala, allerdings inzwischen in einem Van. Ich hatte zwar nicht allzu große Hoffnungen, dass Dean überhaupt antworten würde, aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. In der Zwischenzeit ging Henning los, um in dem Berg von Müll nach weiteren Kätzchen oder einer Mutterkatze zu suchen. Erfolglos.

Dafür schrieb bereits 15 Minuten später Dean zurück. Er sagte, dass er versuchen würde zu helfen, um jemanden zu finden, der uns in Serbien unterstützen oder sogar das Kätzchen nehmen könnte. Er kannte von seiner Zeit in Serbien dort noch eine Frau. Außerdem teilte er unseren Aufruf um Hilfe, sodass sich einige Leute meldeten und uns nahegelegene Tierärzte empfohlen und anboten ggf. zu übersetzen. Also stand schon mal fest, dass wir morgen mit dem Kätzchen zum Tierarzt fahren würden und es heute entsprechend mit uns im Zelt schlafen würde. Dafür mussten wir allerdings zunächst eine Stelle zum Zelten und außerdem Wasser und nach Möglichkeit noch ein bisschen Katzenfutter finden. Ich räumte also meine Fronttasche aus, polsterten sie mit einem von unseren Sitzkissen und einem Duschtuch und setzte das Kätzchen hinein. Henning durchsuchte währenddessen ein weiteres Mal erfolglos den Müll. Schließlich und fuhren wir los.

Wir hatten tatsächlich Glück. Obwohl auf Maps kein Supermarkt verzeichnet war, fanden wir noch einen winzigen Laden und dieser hatte sogar eine Dose Katzenfutter. Anschließend füllten wir unser Wasser auf und suchten nach einem vernünftigen Zeltplatz. Weit hinten auf einem Feld hinter einer Reihe von Apfelbäumen machten wir halt. Wir ließen das Kätzchen aus der Fronttasche und wollten mit dem Aufbauen beginnen. Allerdings wollte der Kleine gerne kuscheln und war ständig im Weg. Schließlich setzte Henning sich mit ihm hin und ich baute zügig alles auf. Wir verzichteten aufs Kochen und aßen nur ein paar Cracker und gaben dem Kätzchen etwas Nassfutter. Das schien ihm ziemlich gut zu schmecken. Als Henning schließlich so da saß mit dem Kleinen in der einen Hand und einer Dose Bier auf den Schreck des Tages in der anderen, fiel mir plötzlich der Name für den Kurzen ein: „Pivo“. Da wir ihn im Müll zwischen lauter Bierdosen entdeckt hatten, schien das ein sehr passender Name zu sein.

Den restlichen Abend verbrachten wir damit Pivo zu beobachten, mit ihm zu kuscheln und nahmen außerdem Kontakt zu Jovanka auf, deren Kontakt Dean uns vermittelte. Jovanka lebt sowohl in der Schweiz als auch in Serbien und würde übermorgen wieder nach Serbien kommen. Wir sprachen mit ihr ab, dass wir am nächsten Tag zum Tierarzt gehen und den darauffolgenden Tag zu ihr fahren würden. Glücklicherweise wären es vom Tierarzt bis zu ihr nur knapp über 40 km und sollte somit machbar sein. Sie sagte, dass wir schauen könnten, ob wir Pivo bei ihrer Oma auf dem Hof lassen wollten, wo es grade auch noch zwei andere Kitten geben würde und ansonsten auch einfach ganz in Ruhe überlegen könnten, was wir machen wollten. Wir waren ungemein froh über dieses Angebot.

Anschießend stellte sich nun die Frage, wie wir die Nacht im Zelt zusammen verbringen würden. Wir hatten ein wenig Sorge, dass Pivo irgendwann aufs Klo müsste und wir es nicht merken würden, was unweigerlich ein Malheur zur Folge hätte. Da wir unterwegs keine Waschmaschine dabeihaben und man Daunenschlafsäcke nach Möglichkeit ohnehin nicht waschen, sondern nur lüften soll, war das ein Problem. Also bastelten wir aus zwei Kartons, die wir im Supermarkt mitgenommen hatten, eine Box, machten es ihm mit dem Handtuch und einem T-Shirt gemütlich und als es Schlafenszeit war, schlossen wir die Box (natürlich hatten wir zuvor mehr als ausreichend Luftlöcher hineingemacht). Nachdem Pivo noch ein paar Minuten herum rumort hatte, schlief er schließlich und wir machten es ihm nach.

Auch, wenn wir nicht mehr allzu oft ausschliefen, war 5:45 Uhr dann doch ein wenig früh zum Aufstehen. Pivo sah das allerdings vollkommen anders, was vor allem daran lag, dass er Hunger hatte. Also schälte ich mich aus dem Schlafsack, stand in der reichlich frischen Morgenluft und nahm Pivo aus seiner Box. Offensichtlich war heute Nacht das befürchtete Malheur passiert und nicht nur Handtuch und T-Shirt waren voll, sondern auch Pivo. Während er fraß, machte ich ihn mit Feuchttüchern ordentlich sauber und nachdem er im Gras, das ihn um Längen überragte, gepinkelt hatte, war es ihm viel zu kalt und er stürmte wieder ins Zelt. Als ich es auch wieder hinein geschafft hatte, schlummerte er bereits wieder selig in Hennings Schlafsack. Ich muss zugeben, dass mich das reichlich erstaunte. Nicht nur, weil wir nicht wussten, was Pivo für Parasiten hatte, sondern auch, da Henning eigentlich die vehemente Meinung vertritt, dass eine Katze nichts auf dem Sofa verloren hat, geschweige denn im Bett. Aber offenbar hatte Pivo da seine eigenen Mittel und Wege.

Als es etwas später und auch wärmer war, standen wir schließlich auf. Unsere Morgenroutine funktionierte allerdings überhaupt nicht mehr. Wir mussten zwar nicht auf Pivo aufpassen, da er sich kaum einen Meter von uns entfernte, allerdings war er ständig auf der Suche nach Wärme und entsprechendem Körperkontakt. Er war vermutlich einfach zu klein, um ausreichend Eigenwärme zu produzieren. Also war einer immer mit dem Kater beschäftigt, während der andere etwas erledigte. Irgendwann schlief er in Hennings Kapuze ein, sodass wir beide die Hände frei hatten. Schließlich hatten wir – deutlich später als sonst – alles erledigt und machten uns auf in die nächste große Stadt zum Tierarzt.

Unterwegs machten wir häufige Pausen, vor allem um Pivo die Möglichkeit zu geben sein Geschäft zu erledigen. Das klappte allerdings nicht so gut und da er leichten Durchfall hatte, passierte unterwegs diverse Male ein Missgeschick. Als wir mittags endlich in der Stadt beim Tierarzt ankamen, waren wir reichlich froh. Der Tierarztbesuch war dann allerdings so eine Sache für sich, besonders da wir noch nicht wussten, dass die meisten Leute in Serbien Katzen nicht ausstehen können. Zunächst fragte man mich nur doof, was sie denn jetzt machen sollten, als ich mit dem Kitten hereinkam und erzählte, was die Umstände waren. Ich bat darum Pivo durchzuchecken. Allerdings teilte man mir daraufhin nur mit, dass er ein männliches Kitten sei. Wow. Danke. So schlau waren wir schon. Anschließend musste ich nach allem einzeln fragen: Sein Auge? Durchfall? Entwurmen? Parasiten? Sein After? Sein Alter? Vermutlich vergaß ich etwas, aber ich war es nicht gewohnt, dass ich um all diese Dinge einzeln bitten musste und musste mich auch noch nie um ein krankes Katzenwelpen kümmern. Am Ende wurde alles erledigt, worum ich bat, aber auch nicht mehr. Entnervt ging ich wieder zu Henning, der bei unseren Rädern wartete und wir beschlossen einen zweiten Tierarzt aufzusuchen. Dieser machte tatsächlich nichts anderes als der Erste, aber ich musste um nichts davon bitten. Also musste das wohl erst einmal reichen. Immerhin wussten wir nun, dass er 347 g wog und vermutlich 4 Wochen alt war.

Wir besorgten noch eine Katzentransportbox und ganz kleines Trockenfutter in einem Laden für Tierbedarf und machten uns schließlich auf den Weg zur Donau, um dort nach einem Zeltplatz zu suchen. An die Donau kamen wir leider nicht heran, aber wir fanden eine Wiese neben einem Feld, wo wir unser Lager aufschlugen und Pivo endlich toben konnte. Wir bauten alles auf, aßen eine Kleinigkeit und gingen anschließend wieder zu dritt ins Zelt. Wir waren ziemlich kaputt. Der Tag war nicht nur für Pivo aufregend anstrengend gewesen.

Der nächste Tag begann wieder unglaublich früh, als es Zeit für Pivos Frühstück war. Doch da wir erst abends bei Jovanka sein sollten, hatten wir Zeit und lümmelten daher noch im Zelt rum, kuschelten mit Pivo und sahen zu, wie er sich draußen durchs hohe Gras kämpfte. Den restlichen Vormittag verbrachten wir damit zu frühstücken und uns die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen. Gegen Mittag brachen wir auf, wobei Pivo in seiner neuen Transportbox zunächst ziemlich Randale machte. Aber schließlich beruhigte er sich und schlief ein. Trotzdem behielten wir unsere häufigen Stopps bei, ließen ihn immer wieder raus, um sein Geschäft zu verrichten, herumzulaufen oder mit uns zu kuscheln. Nachdem wir mehr als die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten, machten wir Pause auf einer Wiese, um etwas zu essen. Aber statt etwas zu essen, brach ich in Tränen aus und sagte Henning, dass ich nicht wisse, ob ich Pivo abgeben wollte. Statt der erwarteten Bitte die Kirche im Dorf zu lassen und mich zusammenzureißen, traten auch Henning die Tränen in die Augen und er sagte, dass er es auch nicht wisse. Wir waren nicht nur überfordert, sondern dieses winzige Etwas hatte uns komplett erwischt. Nachdem wir uns wieder halbwegs beruhigt hatten, beschlossen wir zunächst zu Jovanka zu fahren, uns alles anzugucken, mit ihr ausgiebig zu sprechen und dann zu entscheiden, ob wir Pivo dalassen würden. Fest stand, dass wir ihn erst hergeben würden, wenn wir sicher wären, dass er ein tolles und liebevolles Zuhause hat.

Mit diesem Versprechen an uns selbst im Kopf, stiegen wir wieder auf die Räder und fuhren noch die letzten 20 km bis zum Hof von Jovanka. Wie diese wunderbare Frau uns dabei half unseren Weg zu finden und wie genau dieser aussieht, gibt es im nächsten Beitrag zu lesen.

9 Gedanken zu “Pivo – Teil 1

  1. Hallo ihr Zwei, herrlich Geschichte, die ans Herz geht. Weiterhin viel Spass mit Pivo und euch alles Gute. Freue mich sehr auf eure nächsten Berichte .

    Liebe Grüsse

    Michael

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  2. Hallo ihr lieben Menschen, ich freue mich so das Pivo euch gefunden hat und das ihr ihn gefunden habt. Er ist auch zum verlieben. Schön das ihr euch für ihn entschieden habt. Kleine Fellnasen bereichern das Leben ungemein. 🐈💕
    Freue mich eure Reise begleiten zu können .
    Lieben Gruß Jenny

    Gefällt 1 Person

  3. Hello! I’ve been waiting and hoping for a report about Pivo after finding your story on 1bike1world’s Instagram last summer. What a precious little kitty, so incredibly lucky to have been found by you two!! You are wonderful. I can’t wait to hear more.
    Chris in Wisconsin USA

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    1. Hey Chris, 🙂
      thanks a lot for your message. Pivo is just an awesome little kitty and we’re glad that he found us. Next Tuesday you can read what happened after we meeting Jovanka.
      Thank you for following us.
      Cheers,
      Marielle, Henning and Pivo 🙂

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  4. So eine schöne Geschichte! 😍 Ich folge euch seit Dean es geteilt hat und habe die ganze Zeit auf ein Update gewartet. Ich bin schon total gespannt auf den 2. Teil und wie es für euch weiter ging ❤

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