Unterwegs im wunderschönen und einsamen Hinterland
Nach unserer letzten Nacht an der kroatischen Küste, bogen wir am nächsten Tag in Richtung Inland ab und man könnte sagen, dass es ab hier schon abenteuerlicher wurde. Bis auf den starken Gegenwind, den wir von Tagesbeginn an hatten, war eigentlich alles ganz normal gewesen. Mittags verkrochen wir uns wieder knappe vier Stunden vor einem Supermarkt unter der Markise und versuchten irgendwie mit einem Eis die Temperaturen zu ertragen, die schon den ganzen Tag an den 40°C kratzten. Als wir erst gegen Abend weiterfuhren, wollten wir im Grunde nur noch einen Schlafplatz finden, aber das war gar nicht so leicht. Die kroatische Landschaft ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie sehr steinig ist. Überall sind Steine. Und zwar keine kleinen, auf die man im Notfall seine Isomatte legt und es für eine Nacht gut sein lässt, sondern so große, dass man nicht mal ein Zelt aufbauen kann. Wir fuhren also die Straße entlang und suchten immer verzweifelter die Landschaft nach einer Möglichkeit zum Zelten ab. Wobei uns das Fahrradfahren immer mehr Probleme machte bzw. der Wind das Fahrradfahren bald unmöglich werden ließ. Wir hatten inzwischen begriffen, dass es nicht einfach nur windig war, sondern dass die Bora blies. Dabei handelt es sich um Fallwinde in Kroatien, die extreme Windgeschwindigkeiten mit bis zu 200 km/h erreichen können, wobei sie sich im Sommer bei milden Temperaturen meist mit 90 km/h zufriedengeben. Grade gegen Abend nehmen die Winde jedoch immer mehr zu und wüten die Nacht hindurch.





Für uns wurde das Fahrradfahren entsprechend irgendwann nicht nur müßig, da wir kaum noch über 10 km/h hinauskamen, sondern auch gefährlich. Der Wind kam für uns von schräg vorne, wodurch wir grade bei den starken Böen ständig extrem ins Schlingern kamen, was zum einen den Verkehr für uns immer gefährlicher werden ließ, aber auch den Abhang neben der Straße, dem wir immer wieder viel zu nahekamen. Irgendwann zogen wir die Reißleine und suchten uns notgedrungen einen Platz zum Zelten. Kaum hatten wir die Räder abgestellt und versuchten eine Stelle möglichst von den größten Steinen zu befreien, da schepperte es und mein Fahrrad war vom Wind einfach umgeweht worden. An der Stelle darf man nicht vergessen, dass die Biester immerhin 50 kg wiegen. Da auch Hennings Fahrrad bereits gefährlich wackelte, luden wir alle Taschen ab und legten die Räder auf den Boden. Anschließend versuchten wir uns am Zeltaufbau, wobei hier die nächste Herausforderung in Form des steinharten Bodens auf uns wartete. Wir bekamen einfach keine Heringe in den Boden. Also suchten wir die größten Steine in der Umgebung zusammen und banden das Zelt daran fest. Die Konstruktion wirkte mehr schlecht als recht, was noch deutlicher wurde, als wir uns ohne Abendessen – kochen ging bei dem Wind nicht – ins Zelt legten. Es war ohrenbetäubend laut und dadurch, dass das Zelt nicht vernünftig abgespannt war, schlug die Zeltwand dauerhaft gegen unsere Köpfe. Selbst mit Ohropax war an Schlaf nicht zu denken. Um 23 Uhr stand Henning schließlich auf, um zu sehen, ob er das Zelt mit noch mehr Steinen besser befestigt bekam. Währenddessen lag ich mit ausgebreiteten Armen und Beinen im Zelt und sorgte durch mein Gewicht dafür, dass es nicht einfach wegflog. Henning werkelte eine halbe Stunde, schleppte Unmengen an Steinen an, baute eine Mauer als Windschutz und trieb – befeuert von der Wut darüber, dass er nicht schlafen konnte, – mit einem riesigen Stein doch noch einige Heringe in den Boden. Und es half. Es war zwar noch immer sehr laut, aber das Zelt bog sich nicht mehr so durch und schließlich schliefen wir doch noch völlig erschöpft ein.






Am nächsten Morgen ging der Wind unverändert und wir fuhren, ohnehin schon wegen zu wenig erholsamen Schlaf nicht ganz auf der Höhe, bereits leicht gereizt los. Dass es die ersten zwei Stunden nur bergauf ging und der Wind dabei immer von schräg vorne kam, half nicht die Stimmung aufzuhellen. Noch viel weniger halfen aber die Autofahrer. Manchmal fragen wir uns wirklich, wie schwierig es denn sein kann, mal nachzudenken bzw. ein Stück weiter zu denken als bis zu sich selbst. Wenn ich mich beim Autofahren wegen des Windes bereits konzentrieren muss oder diesen zumindest deutlich merke, was glauben die Autofahrer dann, wie es einem Radfahrer geht? Die kroatischen Autofahrer jedenfalls scheinen gar nicht nachzudenken und schoben sich mit einem Abstand von vielleicht 20 cm an uns vorbei. 20 cm sind per se schon viel zu wenig. 20 cm berghoch sind noch viel weniger, da man schlichtweg aufgrund der Anstrengung und des Gewichtes immer wieder mal Schlenker fährt. Aber mit nur 20 cm bergauf bei starkem, böigem Wind zu überholen, ist einfach nur dumm und für uns lebensgefährlich. Wir wurden unglaublich wütend, schrien, fluchten, zeigten Leuten den Finger und mussten immer wieder Pause machen, damit der Kopf sich kurz erholen konnte. Es war ätzend.






Es kam aber noch besser. Denn als wir an einer Abzweigung prüften, wo wir eigentlich entlang mussten, stellten wir fest, dass der nächste Supermarkt erst in 61 km eingezeichnet war und bis dort noch zwei Berge zu bezwingen waren. Das bekam eine ganz andere Brisanz durch den Umstand, dass wir absolut nichts mehr zum Essen hatten. Es war für uns in diesem Fall sogar so ernst, dass wir an dem einzigen Wohnhaus, was weit und breit zu sehen war, klopften und fragten, ob sie etwas zu Essen hätten, was wir ihnen abkaufen könnten. Der Mann hatte jedoch leider selbst nicht genug da, füllte aber unser Wasser auf. Und so fuhren wir in bedrückter Stimmung weiter. Irgendwann kamen wir dafür aber an einen wunderschönen Fluss und das Beste an dem Fluss war, dass an dessen Ufer vor einer Wiese ein Mann mit seinem Auto stand und aus dem Kofferraum Gemüse verkaufte. Selten hatten wir uns so über Kartoffeln und Zucchini gefreut, die wir uns fürs Mittag- und Abendessen mitnahmen. Jetzt konnten wir endlich in den Fluss springen, uns abkühlen und uns auch gebührend darüber freuen. Irgendwann mussten wir jedoch weiter, da wir nicht genug Wasser hatten, um schon irgendwo bleiben zu können, was schade war, da wir zahllose perfekte Zeltplätze entdeckten. Natürlich ging es auch wieder mal bergauf, aber obwohl die asphaltierte Straße sich zur Krönung des Tages schließlich in einen vollkommen unbefestigten Weg verwandelte und wir die Räder selbst schiebend kaum noch vorwärts bekamen, war der Ausblick, den wir hatten, atemberaubend. Büsche, Berge und weit unten der glitzernde Fluss. Dazu eine Stille, die von nichts unterbrochen wurde. Es war ein wunderschöner Fleck, wo wir hier waren und vom Tourismus, wie es schien, vollkommen unbehelligt. Im Grunde waren wir genau dort, wo wir hinwollten. Nur vielleicht mit etwas weniger zu Essen als wir es uns gewünscht hätten.







Nach einer Stunde, die sich jedoch viel länger anfühlte, erreichten wir wieder eine asphaltierte Straße und rollten weiter. Die Sonne stand schon tief und wir wollten nur noch unser Wasser auffüllen und endlich einen Platz zum Zelten finden. Wir sprachen eine Frau in ihrem Garten an, doch als wir auf unsere Wasserkanister zeigten, schüttelte diese nur den Kopf. Sie zeigte in die eine Richtung der Straße, wo wir herkamen, und zeigte mit den Fingern die Kilometer bis zum nächsten Ort und tat dann das gleiche für die andere Richtung. Wir wählten natürlich unsere Fahrtrichtung und nach 10 km erreichten wir endlich einen Ort. Zumindest, wenn man Ort zu etwas sagen kann, was aus eingestürzten und zerstörten Gebäuden, einer Hand voll Wohnhäusern und einer Kneipe besteht. Wir hielten bei der Kneipe, vor der einige Männer saßen und Bier tranken und ich fragte Henning, welche von den drei Türen wohl der Eingang sei, als von der Seite in perfektem Deutsch geantwortet wurde, dass wir die mittlere Tür nehmen sollten. Als wir uns auf den Weg machten, rief uns ein anderer auf Englisch hinterher, dass wir uns ein Bier mit rausbringen sollten. Mit diesen Sprachen hatten wir in diesem Örtchen nun wirklich nicht gerechnet, aber das mit dem Bier ließen wir uns nach diesem Tag nicht zwei Mal sagen und setzten uns mit einem kalten Blonden zu den Männern an den Tisch.





Wir kamen ins Gespräch und erfuhren, warum wir so viele zerfallene Gebäude gesehen hatten. Dies waren die Überbleibsel aus dem Krieg. Die Gebäude waren schlichtweg nicht wieder aufgebaut worden, weil entweder kein Geld da war oder die Leute nie in ihr Dorf zurückgekehrt waren. Das Dorf, in dem wir an diesem Abend saßen, besaß vor dem Krieg ursprünglich 2.200 Einwohner und hatte entsprechend eine Schule, eine Apotheke, ja sogar eine Firma produzierte dort. Inzwischen leben dort nur noch 90 Menschen, ausschließlich alte Leute, die ihre Heimat nicht verlassen wollen. Der Rest, der dort saß und sich mit uns unterhielt, war zu Zeiten des Krieges ausgewandert, nicht mehr zurückgekehrt und lebte dort nur im Urlaub, wenn sie die Familie besuchten. Aus diesem Grund lagerte in der ehemaligen Schule inzwischen auch Stroh vom Bauern. Wozu neue Gebäude bauen, wenn die alten niemand nutzt. Es war faszinierend für uns, da wir so wenig über diesen Krieg oder die Zeit danach wissen und es weder bei Henning noch bei mir in der Schule Thema war. Irgendwann wurden wir noch zu ein paar Spielen Boccia eingeladen und wir gaben unser Bestes. Wobei es bei der von Unkraut überwucherten Spielfläche auch reichlich viel mit Glück zu tun hatte, wo die eigene Kugel am Ende landete, und wer gewann. Spaß hatten wir alle trotzdem. Vielleicht auch grade, weil es auch ein wenig Glückssache war. Als wir uns schließlich auf den Weg machen wollten, um eine Wiese zum Zelten zu finden, sprach uns ein Mann, der sich als Miro vorstellte und in der Zwischenzeit hinzugekommen war, an und sagte, dass wir heute Nacht nicht zelten würden. Er hätte hier ein Haus, würde aber bei seinem Onkel schlafen, also würden wir bei ihm im Haus übernachten. Wir schauten uns an, zuckten die Achseln, folgten Miro einen Kilometer bis zu seinem Haus und kippten dort komplett aus den Sätteln.
Das Haus war schon mehr eine kleine Villa mit Pool, Liegen, Hängematte und allem, was das Herz begehrt. Miro wirbelte mit uns einmal durchs Haus, das Platz für 12 Personen bot, zeigte uns alles, sagte, dass wir am nächsten Tag einfach die Tür zuziehen sollten und war wieder verschwunden. Wir standen ziemlich perplex und fassungslos herum. Das war alles viel zu schnell gegangen. Vor acht Stunden hatten wir noch gedacht heute nichts mehr zu Essen zu bekommen und hatten kein Wasser gehabt und nun standen wir in einem klimatisierten Luxushaus. Wahnsinn. Wir zogen unsere Sachen aus, stopften alles in die Waschmaschine und hüpften im Mondschein noch in den Pool. Es war zwar reichlich frisch, aber wir wollten dieses tolle Angebot doch wenigstens nutzen. Anschließend schliefen wir wie die Babys in einem wunderbar bequemen Bett. Das Leben schreibt einfach die besten Geschichten.






Am nächsten Tag ging es bestens gelaunt, wenn auch ohne Frühstück weiter und wir erreichten nach 34 km endlich den nächsten Supermarkt und machten dort eine ausgiebige Frühstückspause. Diese durfte jedoch nicht zu lang ausfallen, da für den Mittag ein Gewitter angesagt war und wir noch über einen Berg mussten, um endlich das Drachenauge zu erreichen. Nach Möglichkeit wollten wir nicht ganz oben sein, wenn das Gewitter losging. Tja, was sollen wir sagen: Kurz bevor wir den Gipfel für diesen Tag erreichten, wurden die Wolken am Himmel immer schwärzer und als es nur noch ein knapper Kilometer war, fing es auch schon bedrohlich an zu Donnern. Wir traten noch kräftiger in die Pedale als zuvor und endlich ging es bergab. Kurz darauf passierten wir einige Häuser und auch einen kleinen Supermarkt mit Vordach. Das schien uns ideal, um das Gewitter abzuwarten. Keine Sekunde zu früh, stellten wir unsere Räder ab, denn plötzlich fing es an zu schütten und zu hageln wie aus Eimern. Dazu blitzte und donnerte es und das Gewitter war irgendwann so nah, dass wir uns in den Supermarkt stellten, da wir es regelrecht mit der Angst zu tun bekamen. Da auch noch zwei Gewitter aus verschiedenen Richtungen aufeinandergetroffen waren, hatte sich das Ganze so richtig schön festgesetzt und fünf Stunden lang ging die Welt unter.





In diesen fünf Stunden hatten wir aber noch eine weitere wunderbare Begegnung. Wir hatten es uns mit unseren Campingstühlen unter dem Vordach bequem gemacht, als uns zwei Männer ansprachen. Italiener, wie sich herausstellte. Marco und Giorgio waren zum Bergsteigen im kroatischen Hinterland und schliefen in ihrem Auto. Wir unterhielten uns kurz und sie fragten, ob wir nicht Lust hätten, zusammen zu Abend zu essen. Marco wollte echte italienische Pasta für uns kochen und da sie mit dem Auto flexibel waren, würden sie einfach zu unserem Zeltplatz gefahren kommen. Wir sagten zu, tauschten Nummern aus und fuhren irgendwann weiter. Zum Glück war es nicht mehr weit bis zum Drachenauge und es gab sogar einen inoffiziellen Campingplatz, wo man sich wunderbar hinstellen konnte und bereits drei Autos und zwei andere Backpacker waren. Marco und Giorgio stießen zu uns und wir hatten einen richtig schönen Abend zusammen und kamen dazu noch in den Genuss bekocht zu werden.






Am nächsten Morgen waren die Italiener früh weg, da sie eine Tagestour vor sich hatten und Henning und ich genossen bei Tee und Kaffee den wunderschönen Platz an dem kristallklaren Bach, an dem wir uns befanden. Irgendwann packten wir unsere Sachen zusammen und gingen hinüber zur Quelle, der Grund, warum wir überhaupt hierher gefahren waren. Es sah ziemlich witzig aus, da niemand im Wasser war, alle Leute am Rand standen und zwei Männer im langen Neoprenanzug es einfach nicht hineinschafften. Es war ihnen zu kalt. Jetzt wollte ich es wissen und ging mit den Füßen fühlen. Kalt ist gar kein Ausdruck. Es war arschkalt und meine Füße begannen sofort zu schmerzen. Schließlich beobachtete ich Matthias, einen der Camper, mit dem wir uns am Vorabend unterhalten hatten, wie er hineinging und wusste damit, dass es machbar war. Mein Ehrgeiz war geweckt, ich wollte dort unbedingt rein. Ich hatte zwar auch reichlich Respekt davor, da die Quelle über 100 m tief ist und ich nicht untergehen wollte, aber wenn ich auf meinen Körper hörte, wäre es hoffentlich machbar. Und das war es auch. Insgesamt ging ich drei Mal schwimmen. Es ist ein unglaubliches Erlebnis und das Wasser ist einfach wunderschön. Ich schwamm jeweils ein paar Minuten im Wasser herum. Wobei das mit dem Kopf untertauchen, um mit der Schwimmbrille unter Wasser schauen zu können, tat das ziemlich weh und ich ließ es schnell bleiben. Beim dritten Mal muss ich zudem sagen, dass das Rauskommen schon recht schwierig wurde und ich danach gar nicht mehr zu Zittern aufhörte. Das sollte reichen.

Als wir uns zwei Stunden später wieder bei 40°C durchs Hinterland über irgendeine Schotterpiste schoben, war die Kälte längst ferne Vergangenheit und mir war viel zu heiß. Der stete Gegenwind hatte noch immer nicht nachgelassen und der Wind trocknete uns wieder die Münder aus. Dennoch war es eine wunderschöne Tour. Wir trafen kaum auf Leute und begegneten nur einer Hand voll Fahrzeugen, stattdessen hatten wir die beeindruckende Landschaft mit ihren Bergen und dem Fluss, dem wir grob folgten, ganz für uns allein. Selbst die endlose Schotterpiste konnte uns nicht entmutigen und an einem Kloster konnten wir unser Wasser auffüllen. Als wir abends dann noch an eben jenem Fluss einen perfekten Campingplatz mit Tischen und Bänken direkt am Wasser und einer ebenen Fläche zum Zelten fanden, schickten wir Marco und Giorgio spontan unseren Standort und ein Foto. Eine Stunde später hatten sie sich erneut zu uns gesellt und wir verbrachten unseren letzten Abend in Kroatien bei italienischer Pasta in unterhaltsamer Gesellschaft. Ein perfekter Abschluss für dieses Land.











